Cover
Titel
Konrad Justinger (ca. 1365–1438). Chronist und Finanzmann in Berns grosser Zeit


Autor(en)
Jost, Kathrin
Reihe
Vorträge und Forschungen, Sonderband 56
Erschienen
Ostfildern 2011: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rainer Hugener, Fachbereich Mittelalter, Historisches Seminar der Universität Zürich

Viele Anekdoten zur bernischen und eidgenössischen Geschichte sind allein dem Chronisten Konrad Justinger zu verdanken. Seine Erzählungen haben die nachfolgende Geschichtsschreibung massgeblich beeinflusst und prägen die Vorstellungen von «Berns grosser Zeit» bis heute. Doch um die Gestalt des talentierten Erzählers ranken sich selber zahlreiche Forschungsmythen, etwa über seine Herkunft, seine Ausbildung oder seinen Einfluss auf die bernische Verwaltungstätigkeit. Dieses Durcheinander von Fakten und Spekulationen zu entwirren und anhand des spärlichen, weit verstreuten Quellenmaterials gesicherte Erkenntnisse über den Chronisten und sein Schaffen zu gewinnen, hat sich Kathrin Jost in ihrer Dissertation bei Rainer C. Schwinges in Bern vorgenommen. Der fundierten, umfang- und kenntnisreichen Studie ist anzumerken, dass mehr Arbeit und Wissen eingeflossen ist, als dies angesichts einer immer kurzfristigeren und schnelllebigeren Forschungsförderungspolitik möglich wäre.

Das systematische Vorgehen der Autorin widerspiegelt sich in einem klar strukturierten Aufbau: Im ersten Teil werden Justingers Leben und Werk, seine Arbeiten und sein soziales Umfeld behandelt, im zweiten Teil wendet sich die Autorin den Quellen, dem Aufbau, den Inhalten, den Funktionen und der Rezeption seiner Berner Chronik zu. Wie schon der Titel verrät, verknüpft die Untersuchung Justingers Schaffen als Chronist mit seinen Tätigkeiten als «Finanzmann »: Mit dieser Umschreibung wird sowohl auf Justingers private Geschäfte hingewiesen als auch auf seine Arbeiten für die Berner Verwaltung. Wie ein sorgfältiger Schriftvergleich ergibt, hat Justinger wohl das städtische Satzungenbuch angelegt, nicht aber – wie man bisher annahm – die Spruch-, Testamenten-, Tellund Udelbücher. Der Innovationsschub der bernischen Kanzlei an der Wende zum 15. Jahrhundert ist damit nicht allein auf Justinger zurückzuführen, der das Amt des Stadtschreibers ohnehin nur für gut ein Jahr innehatte. Diese kurze Amtsdauer scheint Justinger aber als Sprungbrett benutzt zu haben, um sich – heute würde man von einem «Spin-off» sprechen – als privater Schreib-Unternehmer zu etablieren. Als solcher übernahm Justinger durchaus wieder Aufgaben im öffentlichen Dienst: Nicht zuletzt wurde ihm nach eigenen Angaben 1420 vom Rat der Auftrag erteilt, die Geschichte der Stadt von den Anfängen bis zur Gegenwart aufzuarbeiten. Für diese Aufgabe qualifiziert hatte sich Justinger wohl mit einer Abschrift der Weltchronik Jakob Twingers von Königshofen sowie mit einer eigenen, kürzeren Arbeit über die Geschichte Berns, der so genannten «Anonymen Stadtchronik», die demnach also noch vor der amtlichen Chronik entstanden und ebenfalls Justinger zuzuschreiben wäre.

Da Justinger für seine amtliche Chronik das städtische Archiv durchforstet hatte, war er bestens geeignet, um im Auftrag des Rats 1430 auch noch ein Kopialbuch über die wichtigsten bernischen Privilegien, Erwerbungen und Bündnisverträge anzulegen. Dieses so genannte Freiheitenbuch könnte man denn auch geradezu als dokumentarische Ergänzung zur amtlichen Chronik betrachten. Kurz darauf verlagerte Justinger allerdings seine Geschäfte in die Ostschweiz und zog nach Zürich. Aus diesem Umzug schliesst Jost, dass Justinger der Stadt Bern enttäuscht den Rücken zugekehrt habe, weil ihm der Aufstieg in die städtische Führungsschicht trotz all seiner Bemühungen letztlich verwehrt geblieben sei. In diese Richtung deutet auch die Tatsache, dass die Stadt Basel, von wo Justinger eine lebenslängliche Rente bezog, schliesslich zur Haupterbin seines Vermögens wurde, während Bern leer ausging.

Die teils neuen Erkenntnisse zu Justingers Leben und Wirken haben kaum einen Einfluss auf die Interpretation seiner Chronik, die Jost im zweiten Teil ihrer Arbeit liefert. Wie die bisherige Literatur betrachtet sie die Berner Chronik als «frühe[n] Ausdruck städtischen Selbstbewusstseins» (S. 255), als «Pionierwerk der deutschsprachigen Stadtchronistik» (S. 380) und damit als «Vorläufer und Vorbild» für die weitere Geschichtsschreibung im Raum der werdenden Eidgenossenschaft (S. 384). Bezüglich ihrer Funktionen übernimmt Jost die gängigen Interpretationsmuster der Forschung, wonach solche Werke vor allem der Legitimierung, der Repräsentation und der Identitätsstiftung gedient hätten (S. 179). In einem gewissen Widerspruch dazu steht jedoch die bekannte Tatsache, dass die Chronik nach ihrer Vollendung sofort ins städtische Archiv wanderte und dort nur noch einem ausgesuchten Kreis von Ratsherren und Beamten zugänglich war (S. 27, 179, 181). Wie genau die Berner Chronik so die ihr zugesprochenen Funktionen, aber überhaupt auch ihre nachweislich breite Rezeption hätte entfalten sollen, präsentiert ein Dilemma, das auch Jost nicht aufzulösen versucht. Wenig hilfreich erscheint diesbezüglich die Unterscheidung von anachronistisch anmutenden Kategorien wie «amtlich», «offiziell» und «privat». Weiterführen könnten hier allenfalls die neueren Ansätze der Schriftlichkeitsforschung, die nach dem effektiven Gebrauch solcher Dokumente fragen und damit spezifische Erinnerungskulturen sowie die ihnen zugrunde liegenden Praktiken und Rituale in den Blick rücken.

Im Anschluss an die Habilitationsschrift von Regula Schmid («Geschichte im Dienst der Stadt. Amtliche Historie und Politik im Spätmittelalter», Zürich 2009) stellt die Studie von Kathrin Jost eine unentbehrliche Grundlage für jede weitere Beschäftigung mit der spätmittelalterlichen städtischen und eidgenössischen Geschichtsschreibung dar. Besonders wertvoll sind die Relativierungen beziehungsweise Korrekturen zu den teils allzu kühnen Vermutungen von Hans Strahm, die von der Literatur unkritisch übernommen wurden. Angesichts der dürftigen Quellenlage ist es allerdings selbstverständlich, dass eine abschliessende Beurteilung in vielen Punkten nicht möglich ist und damit auch in und nach dieser jüngsten Untersuchung viel Raum für Spekulationen bleibt. Weitere Forschungen dürften angeregt werden durch die dringend notwendige Neuedition von Justingers Werk, die Pascal Ladner vorbereitet.

Zitierweise:
Rainer Hugener: Rezension zu: Kathrin Jost: Konrad Justinger (ca. 1365–1438). Chronist und Finanzmann in Berns grosser Zeit. Ostfildern, Jan Thorbecke, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 477-478.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 61 Nr. 4, 2011, S. 477-478.

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